Jugendliche und Internet: Exotische Technologien?

Bei MIT Press ist ein bemerkenswerter Sammelband zum Themenkomplex „Jugend und digitale Medien“ erschienen, der dank der open access policy des MIT auch online bereitsteht. Insgesamt neun Artikel zu der Rolle, die digitale Medien im Alltag von Jugendlichen spielen und wie sie zu Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement beitragen.

Der erste Text aus dem Sammelband, den ich komplett lesen konnte, stammt von Susan C. Herring:

Herring, Susan C. (2008) : Questioning the Generational Divide: Technological Exoticism and Adult Constructions of Online Youth Identity. In: David Buckingham (Ed.): Youth, Identity, and Digital Media. Cambridge, MA: MIT Press. 2008. S. 71–92. Online:
http://www.mitpressjournals.org/doi/pdf/10.1162/dmal.9780262524834.071

Sie diskutiert darin einige sehr wichtige Aspekte, die auch unser Projekt berühren: Weil heutige Jugendliche in einer Welt aufwachsen, in der das Internet zum Alltag gehört, werden sie gerne entsprechend gelabelt: „Net generation“, „Internet Generation“, „Millenials“ oder auch [das Beispiel kommt bei Herring interessanterweise nicht vor]: „Digital Natives„. Durch solche Zuschreibungen wird, so Herrings These, eine „generational divide“ zwischen Teenagern/Heranwachsenden und älteren Kohorten konstruiert, die in mehrerlei Hinsicht kritisierbar ist.

Zunächst hält sie fest, dass die Internetnutzung der jungen Generation in unterschiedlicher Hinsicht durch Erwachsene und deren Perspektive auf jugendliche Online-Praktiken geprägt ist:

  1. Im Hinblick auf Medienproduktion und Werbung: Erwachsene entwickeln die Kommunikations- und Interaktionsumgebungen, in denen sich Jugendliche bewegen. Sie stellen auch einen Großteil der kulturellen Inhalte her (Musik, TV-Shows und –serien, digitale Spiele, …) die zwar (auch) auf Jugendliche zugeschnitten werden, aber nicht notwendigerweise deren Lebensperspektive reflektieren. Schließlich schaffen Erwachsene dadurch Märkte, die sich an die Zielgruppe der Jugendlichen wenden und Produkte bewerben – sie konstruieren ein Bild von Jugendlichen als „in charge“, autonom und frei in ihren (Konsum)Entscheidungen, das dennoch von Erwachsenen ausgeht.
  2. Im Hinblick auf Berichterstattung in Medien: Mediale Diskurse (möglicherweise in den USA noch stärker als in Deutschland, das wäre gesondert zu überprüfen) konstruieren Jugendliche demgegenüber oft als schutzbedürftig – „to a considerable extent, this discourse reflects what journalists perceive as the concerns of parents and educators about children who spend time on the Internet and World Wide Web“ (S. 74). Aufgrund des fehlenden Einblicks von Erwachsenen in die neue Medienwelt sind diese Diskurse oft “sensationalistisch” bzw. Ausdruck einer „moral panic“, die Jugendliche per se als schutzbedürftig ansieht. Herring nennt das Beispiel myspace.com, das in den amerikanischen Medien vorwiegend als Ort für stalking, Pädophilie, Verbrechen und/oder Pornographie angesehen wird. Ein anderes Beispiel für verzerrende öffentliche Diskurse sieht Herring in den Klagen über vermeintlich defizitäre Kommunikationspraktiken beim Instant Messaging oder SMS-Schreiben.
  3. In Hinblick auf wissenschaftliche Forschung: Hier bezieht sich Herring vor allem auf populärwissenschaftliche Werke (bspw. von Don Tapscott), die deutlich größere Publika erreichen als der innerakademische Diskurs. In beiden Fällen macht Herring allerdings Tendenzen aus, jugendliche Internet-Nutzer-nutzung zu exotisieren, indem das Neue, Transformative und radikal andere betont wird. Dies sei übertrieben, zudem Ausdruck eines Technologieoptimismus, gelegentlich auch Technologiedeterminismus, der die vielen sozialen Rahmungen für Technologie (Geschlecht, Status, Lebenswelt, …) nicht angemessen einbeziehe.

Die Stimme der Jugendlichen kommt dagegen nur selten „unvermittelt“ durch Erwachsene zu Gehör – in Interviews etc. sind sie beispielsweise durch erwachsene Perspektiven gerahmt. In Weblogs und anderen Online-Räumen sind ihre Stimmen zwar ungefiltert zu hören, doch fehlt dort der institutionelle Hintergrund, den Werbung, Journalismus oder Wissenschaft haben, der den Meinungen, Vorstellungen und Ideen der Jugendlichen Gewicht verleihen würde.

Dadurch würde aber, so Herring, der Blick dafür verstellt, dass Jugendliche neue Medien anders wahrnehmen und in Gebrauch nehmen, als es aus der erwachsenen Perspektive scheint: Die Technologie wirkt eben nicht exotisch, sondern eher alltäglich, bisweilen banal. Technologie ist für viele Jugendliche auch insofern kein Selbstzweck, als dass sie lieber andere Aktivitäten vornehmen würden (ausgehen, ins Kino gehen) als zuhause Medienangebote zu konsumieren. Schließlich ist die Perspektive der Jugendlichen weniger technikdeterministisch, sowohl in utopischer als auch in dystopischer Hinsicht, sondern eher pragmatisch.

Herring zieht hier einen wichtigen Vergleich zu ihrer eigenen Generation:

„Young people use new technologies for social ends that are much the same as for earlier generations using old technologies. Young people instant message, text message, or email their friends much as my Baby Boomer generation talked on landline telephones. They abbreviate and use language creatively to signal their in-group identity, much as my friends and I wrote backwards (manipulating the affordances of the hand-written medium) and created special writing conventions to pass notes in class. They flirt online, while we flirted on the phone or in the hallways at school. They express their daily angst in blogs, whereas my generation kept hand-written diaries. They painstakingly craft their profiles in social networking sites to win the approval of their peeres, while we dressed up to be ‘seen’ hanging out at school dances and community youth events. (…) As was also true when I was young, the ends are more interesting and important to the participants than the technological means, especially if the means have been available all one’s life.” (S. 77)

Erwachsene und exotisierende Fremdzuschreibungen wie „Internet Generation“ treffen also einerseits die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen nicht so recht, prägen aber andererseits die Selbstzuschreibungen. Herring spricht hier von einer „dual consciousness“, die Jugendliche aufwiesen, wenn sie Fremd- und Selbstzuschreibung vereinbaren müssten. In Bezug auf Werbung und Konsumkultur würden viele Jugendliche das Internet als einen Ort schätzen, an dem sie sich gerade (Teilen der) Konsumkultur widersetzen können. In Bezug auf Diskurse in den Massenmedien sei die kognitive Dissonanz besonders ausgeprägt, da Jugendliche aus ihrer eigenen Erfahrung wissen, dass das Internet nicht so gefährlich ist, wie es die massenmediale Berichterstattung gelegentlich macht. Befürchtungen und Meinungen von Medien, Eltern und Lehrern stehen hier in besonderer Weise mit der eigenen Wahrnehmung in Kontrast.

(Populär)Wissenschaftliche Diskurse schließlich werden, wenn sie denn wahrgenommen werden, eher als „Fantasien“ oder Wunschvorstellungen von Erwachsenen angesehen. Herring endet auch mit Überlegungen, was dies für wissenschaftliche Forschung bedeuten kann: Statt den Fokus auf Technologien zu legen, sollten onlinebasierte Praktiken in den Mittelpunkt gerückt werden. So könne man beispielsweise erkennen, dass „Anonymität“ oder „Pseudonymität“ kein Feature einer Technologie per se ist, sondern von Jugendlichen in unterschiedlichen Kontexten onlinebasierter Kommunikation auf ganz unterschiedliche Weise und für unterschiedliche Zwecke eingesetzt wird.

Einschlägige Forschung müsste daher Kooperationen mit Jugendlichen selbst eingehen, die wohlmöglich auch über Gruppendiskussionen o.ä. hinaus reichen, um die strukturell bedingten Hierarchien zwischen Forscher und Beforschten aufzubrechen. Zudem sind Forschungsdesigns nötig, die zeitliche Effekte (Kohorten-, Alters-, und Periodeneffekte) einbezieht bzw. messbar macht, und die Unterschiede zwischen jugendlichen Subkulturen, verschiedenen Situationen und spezifischen Technologien einbezieht.

[Update:  In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Rolf Schulmeister in seiner Work-in-progress-Studie „Gibt es eine ‚Net Generation‘?“ (.pdf), die ich allerdings noch nicht ausführlich durchsehen konnte. Andere haben dies dafür schon getan, siehe bspw. Jochen Robes im Weiterbildungsblog und seine Verweise auf andere Stimmen.]

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