Auf der Fahrt von Dortmund zurück nach Hamburg hatte ich Zeit, über einen sehr interessanten Artikel nachzudenken:
Beer, David (2008): Making friends with Jarvis Cocker: Music Culture in the Context of Web 2.0. In: Cultural Sociology, Vol. 2, Nr. 2, S. 222-241.
Beer schließt an Analysen der englischen Kultursoziologie, namentlich zur globalen Kulturindustrie (Lash/Lurry 2007) ((Hier ein Blogbeitrag, der einige Gedanken aus dem Buch auf Facebook anwendet)) an und wählt Jarvis Cocker als Untersuchungsobjekt, um einige Veränderungen in der Musikkultur zu beschreiben, die durch das Social Web angestoßen und unterstützt werden. Nun bin ich kein Kultur- oder gar Musiksoziologe, doch einige von Beers Gedanken fand ich sehr inspirierend. Dazu gehört zum einen die grundsätzliche (und nicht neue) Beobachtung, dass durch die Diffusion und Institutionalisierung von Social-Web-Anwendungen auch die Produktion, Distribution und Konsumtion von Musik Veränderungen unterliegt. Die grundlegenden Spannungen ähneln dabei denen anderer gesellschaftlicher Bereiche (z.B. des Journalismus oder der Politik): Die (Verheißung einer) Demokratisierung von Musik findet ihren Gegner und ihre Grenzen in den weiterhin mächtigen und hierachischen Kräften der globalen Kulturindustrie.
Zum anderen aber enthält Beers Aufsatz eine Reihe von Gedanken zum Stellenwert von persönlichen Öffentlichkeiten im Social Web, die er vor allem anhand von Cockers myspace-Profils „Jarvspace“ entwickelt. Dieses Profil ist ein „Scharnier“ in doppelter Hinsicht: Einerseits erlaubt es die Artikulation von Verbindungen zwischen Fans und Popstar (im Moment hat Jarvis Cocker ca. 74.000 Freunde bei Myspace), andererseits die Netzwerkbildung, möglicherweise auch Vergemeinschaftung der Fans untereinander. Anders gesagt: Das Profil repräsentiert nicht nur einfach die Person Jarvis Cocker, sondern stellt ihm und seinen Fans auch einen Raum für den wechselseiten Austausch zur Verfügung.
Für Cocker bietet seine persönliche Öffentlichkeit u.a. die Möglichkeit, Gatekeeper (Musikpresse, Labels, …) zu umgehen und direkt in Kontakt zu seinen Fans zu treten, ihnen Informationen über Tourauftritte etc. zu vermitteln und Musik anzubieten. Auch Cocker muss Identitäts- und Beziehungsmanagement leisten, also entscheiden, welche Aspekte seiner Selbst er publizieren möchte, und wie er sich in den dadurch initiierten Interaktionen verhält. Nun ist das besondere an „Jarvspace“ aber, dass es die persönliche Öffentlichkeit eines Prominenten darstellt und das Publikum deutlich größer als bei anderen Profilen ist. Diese höhere Reichweite verändert das Identitäts- und Beziehungsmanagement in verschiedener Hinsicht:
- Jarvis Cocker wird seine Selbstdarstellung (vermutlich) vergleichsweise strategisch und stark rollenspezifisch (Rolle als Rockstar) performen. Es ist fraglich, ob er private Gedanken und Erlebnisse auf myspace veröffentlicht – Praktiken des privacy management sind für Prominente ja ohnehin notwendiger Teil des Alltags (man denke an den Umgang mit Paperrazzi o.ä.), und im Social Web hat die Anforderung, nur selektiv Zugang zur Privatsphäre zu gewähren, weiterhin Gültigkeit, ja sie stellt sich sogar noch in besonderer Weise.
- Rein technisch sind die Beziehungen zwischen Jarvis Cocker und seinen 74.000+ „Freunden“ auf myspace zwar reziprok – d.h. beide Seiten haben den Kontakt auf der Plattform bestätigt -, doch in ihrer sozialen Qualität sind sie es nicht ((Hier lässt sich ein interessanter Vergleich zu Facebook ziehen. Dort gibt es zwei Arten von Profilseiten: Profile von Personen „als Personen“, zu denen man sich als Freund in Beziehung setzen kann, und Profile von „Objekten“ (Marken, Organisationen, aber auch Personen), zu denen man sich als Fan in Beziehung setzt. Die Gestaltung des Software-Codes ermöglicht dadurch eine Differenzierung unterschiedlicher Relationen, und damit auch eine Differenzierung der dort abgebildeten sozialen Netzwerke.)). Cocker ist ‚focal point‘ in einem Netzwerk von Beziehungen, von denen er – wenn überhaupt – nur einen Bruchteil initiiert hat. Seine Gegenleistung in den jeweils spezifischen Beziehungen zu einzelnen Fans beschränkt sich auf das Bestätigen einer Kontaktanfrage; ansonsten hält er die Beziehungen dadurch aufrecht, dass er immer wieder neue Inhalte und Informationen publiziert, die sich aber an das disperse Publikum all seiner Fans richten.
- Dieses Merkmal des sozialen Netzwerks, das sich auf „jarvspace“ manifestiert, hat auch Auswirkungen auf die Leistungen, die „jarvspace“ als Öffentlichkeit erbringt: Sie dient eben nicht dem direkten, one-to-one Austausch zwischen Fan und Star, sondern stellt ein Forum dar, in dem sich die Fans untereinander austauschen können – ohne dass auf die „Anwesenheit“ des Stars vollkommen verzichtet werden könnte:
„We see (..) the formation of networks around these well-known performers; these networked friends then use Jarvspace to communicate with one another and forge their own friendships. Jarvis‘ presence is not essential to the connections; the network operates through his space without him being in constant attendance. Yet his intermittent interjections remain essential in giving a sense of ‘livingness‘ to the profile, while remaining only a part of a range of multi-dimensional and decentralized interactions and connections“ (S. 231).
Für andere Nutzer und Fans stellt die persönliche Öffentlichkeit von Jarvis Cocker eine Ressource im mehrfachen Sinn dar: Man kommt an aktuelle, (zumindest vermeintlich) ungefilterte und authentische Informationen über den Star; kann sich mit anderen Menschen austauschen, die ähnliche Vorlieben haben – und kann gegebenfalls die Reichweite des Profils nutzen, um auf die eigene Band o.ä. hinzuweisen
Diese Überlegungen sind m.E. anschlußfähig an verschiedene andere Phänomene und Fragestellungen: Die persönlichen Öffentlichkeiten von Prominenten auf Netzwerkplattformen könnten z.B. mit den populären Weblogs der A-List verglichen werden, in denen auch ab einem bestimmten Level an Aufmerksamkeit/Reichweite die direkte Kommunikation zwischen Autor und Kommentator/Leser abgelöst wird durch eine Kommunikation der Leser untereinander. Aber möglichweise gibt es hier strukturelle Unterschiede, sei es in der Gestalt von Netzwerken und Öffentlichkeiten, sei es in den vorherrschenden Verwendungsregeln – zumindest in manchen Blogs gilt es meiner Wahrnehmung nach als unangemessen, einfach auf seine eigene Seite zu verlinken, ohne etwas zum Kommentardiskurs beizutragen; bei myspace ist dies anscheinend viel akzeptierter.
Zudem frage ich mich, ob man Kriterien finden kann, um das Kontinuum der persönlichen Öffentlichkeiten in Segmente oder Typen zu unterteilen, die über die Unterteilung von „A-List“ und „Long Tail“ hinausgehen. Vermutlich gibt es ja deutliche Unterschiede zwischen den „echten“ persönlichen Öffentlichkeiten (z.B. eine Studentin auf myspace), den „prominenten“ persönlichen Öffentlicheit (hier würde ich Jarvis Cocker ansiedeln) sowie den „kulturindustriell produzierten“ persönlichen Öffentlichkeiten (z.B. die Big Brother-Kandidaten auf sevenload). Reichweite ist da möglicherweise nicht das entscheidende Kriterium.
Und schließlich sind diese Phänomene nicht nur auf den Bereich der Musik bzw. der (Populär-)Kultur beschränkt; zumindest in den USA tummeln sich ja inzwischen auch Politiker auf Netzwerkplattformen (bzw. lassen sich tummeln). Hier nimmt Prominenz und Fan-Sein andere Züge an – aber drücken die 400.000+ Fans von Obama etwas anderes aus als die 74.000+ Fans von Jarvis Cocker?
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