Montag sind die gesammelten Beiträge für das zweibändige Werk „Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web„, das ich mit Ansgar Zerfaß und Martin Welker herausgebe, an den Herbert von Halem Verlag gegangen. Ich habe neben der Herausgebertätigkeit auch den Beitrag „Was ist neu am Social Web? Soziologische und kommunikationswissenschaftliche Grundlagen“ beigesteuert, aus dem ich gerne einige Absätze hier schon mal leicht abgewandelt einstellen möchte – auch um Rückmeldungen bzw. Vorschläge für Ergänzungen zu bekommen, denn möglicherweise werde ich irgendwann nochmal ausführlicher auf die Kontinuitäten des „Web 2.0“ eingehen.
Wie ich bereits beim Vortrag am DNN-Workshop erwähnt habe, finde ich den Begriff „Web 2.0“ problematisch: Seit dem einflussreichen Essay von Tim O’Reilly hat er sich ja zu einer Chiffre für eine Reihe von Veränderungen entwickelt, die die Geschäftsmodelle, Prozesse der Softwareentwicklung und Nutzungspraktiken des Internets berühren. Der Zusatz »2.0« spielt auf die Benennung von Software-Versionen an; der Sprung auf eine neue Version ist dabei gleich zu setzen mit grundlegenden Veränderungen. Auf das Web übertragen schwingt mit dem Begriff die Assoziation eines tief greifenden Wandels des Internets mit. Viele Diskurse in der medialen Berichterstattung, aber auch zu ökonomischen Potenzialen des internetbasierten Wirtschaftens haben diese Annahme aufgegriffen und so die Vorstellung gefestigt, mit dem Web 2.0 sei eine neue Phase des Internets angebrochen.
Aufgrund des Thomas-Theorem – »wenn Menschen ihre Situationen als wirklich definieren, sind sie wirklich in ihren Konsequenzen« – ist davon auszugehen, dass solche Diskurse auch eine reale Wirkung entfalten. Aus wissenschaftlicher Perspektive sollte jedoch eine Begriffskritik deswegen nicht ausbleiben, insbesondere um die Vorstellungen zu entkräftigen, es habe einen »diskreten Versionssprung« oder sogar revolutionäre Brüche in der Entwicklung des Internet gegeben. Für mindestens zwei Bereiche lässt sich meines Erachtens zeigen, dass die gegenwärtige Situation eher Ergebnis eines kontinuierlichen bzw. inkrementellen Wandels ist.
(1) In Bezug auf die Anwendungen bzw. die technische Basis postuliert O’Reilly in seinem grundlegenden Essay als Merkmal des Web 2.0: »The web as platform«. Er spielt damit auf das Prinzip an, den Zugang zu Diensten aller Art vorrangig über das World Wide Web zu gestalten, sodass Nutzer nur einen Browser benötigen und keine Desktop-Programme installieren müssen. Allerdings zeigt ein Blick auf die Geschichte verschiedener Anwendungen, die mit dem Web 2.0 verbunden werden (vgl. die Abbildung), zweierlei: a) Bereits vor 2004 gab es zahlreiche Programme oder Vorläufer heute populärer Anwendungen, die ebenfalls webbasiert waren. b) Teilweise greifen die Web 2.0-Anwendungen sogar auf Dienste zurück, deren Anfänge bis in die 70er Jahre zurückreichen, aber damals schon Praktiken des Identitäts- und Beziehungsmanagements erlaubten.
Klicken vergrößert ((ändert aber nichts an den Farben… Ich bin kein Grafik/Design-Genie, wer sich hier austoben möchte: Sehr gerne, die Grafik steht unter einer entsprechenden Lizenz.))
Ich will nicht grundsätzlich in Frage stellen, dass das World Wide Web in wachsendem Maße zum universalen Internetdienst für den Endnutzer wird, doch steht diese Entwicklung in einer längeren Tradition, sodass schwerlich von einem abrupten Sprung auf eine neuere »Version« des Internet gesprochen werden kann.
(2) Auch in Bezug auf zugrundeliegende Leitbilder knüpft das Web 2.0 an Vorläufer an, die bis in die Anfänge des Internet zurückreichen – oder sogar darüber hinaus. Bereits vor mehr als 60 Jahren skizzierte Vannevar Bush (1945) in seinem Essay »As we may think« die Idee eines »Memory Extenders« (Memex), der Wissenschaftlern die Verwaltung und assoziative Verknüpfung von Informationen aller Art erleichtern sollte. Zwar wurde die konzipierte Maschine nie gebaut, doch ihre Prinzipien beeinflussten die Entwicklung von verteilten Computersystemen in den folgenden Jahrzehnten (vgl. z.B. den Text von Michael Friedewald in k@g) und können als Vorläufer heutiger Visionen von onlinebasierter Wissensarbeit mit Hilfe von Wikis, Verschlagwortungssystemen oder anderen Anwendungen dienen.
Maßgeblich haben Bushs Gedanken auch die Entwicklung des World Wide Web geprägt, dessen technische Grundlagen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre von einer Forschergruppe um Tim Berners-Lee am Genfer CERN gelegt wurden. Ihre Arbeit machte nicht nur die hypertextuelle Verknüpfung von Dokumenten (und in der Folgezeit zahlreicher anderer digitaler Ressourcen) populär, sondern sie vertraten damals bereits ein Prinzip, das heute als besonders Merkmal des Web 2.0 hervorgehoben wird: Jeder Nutzer ist potentieller Sender, der Inhalte in das Netz einspeisen und mit anderen Inhalten verknüpfen kann. Die Web-Technologie bot damit auch einen idealen Nährboden, um die sich seit den 60er Jahren formierenden gegenkulturelle Strömung aufzunehmen, die insbesondere an der us-amerikanischen Westküste die Form eines »techno-utopianism« (Fred Turner; vgl. die Skizze der »kalifornischen Ideologie« von Barbrook/Cameron) angenommen hatte und sich unter anderem in der populären Konzeption von »virtuellen Gemeinschaften« (Howard Rheingold) niederschlug.
Zusammenfassend: Als Sammelbegriff für verschiedene Anwendungen ist „Web 2.0“ zwar geeignet, die in ihm enthaltene Implikation eines deutlichen Bruchs mit früheren Phasen der Internetentwicklung ist jedoch nicht haltbar. Für den Sammelband haben wir die Bezeichnung »Social Web« gewählt, weil sie zum ersten keine Unterscheidung zeitlicher Phasen enthält, zum zweiten auf das World Wide Web als zunehmend universaler Dienst des Internet verweist und zum dritten den grundlegenden sozialen Charakter desjenigen Bereichs des Internets betont, der Kommunikation und anderes aufeinander bezogenes Handeln zwischen Nutzern fördert, also über die Mensch-Maschine-Interaktion hinausgeht.
Hmm, vielleicht hat 2.0 auch viel mit der verfügbaren Infrastruktur zu tun? Wenn ich mal so überlege, ab wann ich nicht mehr mit dem Modem online gegangen bin, wann die „Mailboxen“ (das war damals, als die Post noch die Telefone betrieb) abgelöst wurden durch das Internet und seit wann es Flatrates für das Netz gibt….
…das jetzt an Applikationen festzumachen finde ich auch eher nicht so passend. Ich denke mal, dass es eine Menge mit dem ZUGANG zu tun hat und dem PREIS für den Zugang. Ich vermute jetzt mal, dass das „Web 2.0“ eigentlich erst dann anfing zu fliegen, als die Flatrateverbreitung ihr stärkstes Wachstum erreicht hatte.
Aber ist nur ’ne Vermutung. Die ganzen lustigen Dienste funktionieren ja nur, weil es mich nicht mehr wie früher ein kleines Vermögen kostet, „ONLINE“ zu gehen. So gesehen, hat die „BEVÖLKREUNG“ des Web vermutlich erst dann eingesetzt, als die Flatrates attraktiv genug wurden, um das Modem endlich in die Ecke zu werfen.
„…das jetzt an Applikationen festzumachen finde ich auch eher nicht so passend“
Eigentlich ja mein Reden – es geht um Praktiken, und die beinhalten bestimmte Verwendungsweisen, die innerhalb bestimmter Netzwerke geteilt/aufrechtgehalten/ausgehandelt werden – aber eben auch bestimmte technische Grundlagen. Man müsste dazu den Bereich des „Code“ (der in meinem Modell die Anwendungen und ihre spezifische Architektur umfasst) um die Frage nach den Zugangsmöglichkeiten, Breitbandverbindungen etc. erweitern. Denn generell stimme ich Dir zu: Breitband-Flatrates haben einen Einfluss darauf, wann bzw. wie lange und wie ich das Netz nutze; bei Pod- und Videocasts oder Bilder-Plattformen wird das recht deutlich.
Wir haben das bei empirischen Untersuchungen in der Virtuellen Hochschule Bayern mit EverLearn gemerkt, dass vor allem der „Spass am Lernen“ im e-Learning deutlich von der Geschwindigkeit des Netzzugangs abhing. Klar, warten macht keinen Spass: Wer will schon 5 Minuten warten, bis sich in studi.vz ein Fotoalbum aufgebaut hat und wenn dann jedes Foto auch noch kostet…
Wie Deine Grafik ja zeigt, gab es vieles schon vorher, z.B. Instant Messaging, aber ein Dienst wie z.B. weblin funktioniert eben erst, wenn das Netz so richtig „crowded“ ist und durch Flatrates auch „was los“ ist im Netz.
Also Zustimmung von mir: Technisch hat sich eigentlich gar nicht soviel getan, wenn man mal von Adobes Einführung von Flash als de facto Videostandard (macht das Bild bewegt ohne Plugin-Ärger) und CSS (macht das Web bunt) und diversen AJAX-Frameworks (DOM-Models und ECMA-Script jetzt überall ordentlich umgesetzt) absieht.
Fehlender Flatrate-Zugang ist immer noch das Haupthindernis für den „Digital Native“, das merkt man schon daran, wie man jedes Mal ein nervöses Zucken bekommt, wenn das Hotel in dem man grade eincheckt wieder nur kompliziert (wenn überhaupt) Netzzugang ermöglicht. ;-)
Ich prophezeie mal, wenn irgendjemand auf die Idee kommen sollte eine Art „Internetmaut“ einzuführen, ist Ende im Gelände mit Dingen die als klassische Web 2.0-Anwendungen gesehen werden z.B. wikipedia.
Vielleicht sollte man den Akzent weniger auf den (technischen) „Bruch“ legen, als vielmehr den Wandel im Bewusstsein sehen. Zweifellos gab es bestimmte theoretische Konzepte schon sehr früh und auch auf der Ebene der Software war dies der Fall (Wikis ab Mitte der 90er Jahre, also lange vor dem Web 2.0).
Aber auf breiter Ebene ins Bewusstsein der Leute kamen viele Dinge eben erst nach dem Jahr 2000. Dafür einen eingängigen Begriff zu prägen, der weltweit aufgegriffen und akzeptiert wird (ausgenommen vielleicht bei ein paar Wissenschaftlern), ist doch nicht schlecht, oder?
@Matthias: Klar ist es durchaus eine Leistung, einen so erfolgreichen Begriff zu prägen, und ich nutze „Web 2.0“ ja auch immer wieder, wenn ich „mal eben schnell“ einen Oberbegriff für die gegenwärtigen Entwicklungen brauche.
Aber das Problem, das ich nach wie vor mit ihm habe ist, dass er einen Bruch/diskreten Versionssprung/Revolution impliziert, wo ich in vielen Fällen eher Kontinuitäten sehe. Auch der Wandel im Bewusstsein, den Du ansprichst, hat ja seine Vorläufer – letztlich könnte man vielleicht argumentieren, dass wir uns im Moment in einer Phase befinden, in der Veränderungen in ganz vielen Bereichen (Technik incl. Breitbanddiffusion; Nutzungsweisen incl. der mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Konsequenzen; öffentliche Wahrnehmung durch entsprechende Diskurse in Medien, Konferenzen, Blogs, …) so weit gekommen sind, dass wir die Konstellation als etwas neues wahrnehmen.
Stimmt schon, der Begriff „Web 2.0“ impliziert einen Bruch. Ich bin auch der Meinung, dass das Web nicht einen Sprung gemacht hat und plötzlich das war, was es heute ist. Es gab und gibt eine kontinuierliche Entwicklung. Dennoch ist eine Einteilung in Phasen berechtigt und irgendwie ist „Web 2.0“ prägend, weil das Netz heute einfach anders genutzt wird als früher: Es dient nicht mehr nur der Information, sondern eben auch dem Networking etc. Und ja, die Möglichkeiten dazu gab es auch im „Web 1.0“ (wenn wir es so nennen wollen), aber da wurden sie eben nicht so intensiv genutzt.
Kurzum: Ich finde eine Phasenbennenung berechtigt und Social Web trifft es auch ganz gut – wohl besser, da eben der Bruch nicht impliziert ist.
Allerdings: Als ich „Web 2.0“ das erste Mal hörte und erfuhr, was dahinter steckt, fand ich es schon plausibel. Das ist jetzt aber sehr subjektiv und ich denke dennoch, dass „Web 2.0“ einen Sprung impliziert.
Wirklich schade, dass das Buch erst Ende März 2008 herauskommt – ich könnte es jetzt so gut für die DA gebrauchen. ;)