Zwischen all den Konferenzreisen komme ich zum Glück zumindest ab und an auch mal dazu, mir einige konzeptionelle Gedanken zu machen. Schon länger geistert mir durch den Kopf, wie man die spezifische Architektur des Kommunikationsraums von Twitter visualisieren könnte, der ja trotz mancher Ähnlichkeiten dann doch anders als z.B. das Weblog oder die Profilseite auf einer Netzwerkplattform gestaltet ist. Heute hatte ich endlich mal etwas Zeit, eine Abbildung zu basteln, die ich gern zur Diskussion stelle.
Strukturell will ich damit ausdrücken, dass sich der einzelne Nutzer von Twitter im Schnittfeld von zwei unterschiedlichen Sphären befindet: Dem „Radar“ ((Ich habe vorhin auf Twitter auch gefragt, welche alternativen Bezeichnungen es gäbe. Danke für Eure Antworten: Filter, Bühne, Tracker bzw. Pfadfinder, Inspirationsquelle, Quellen, Sensoren, Hinterbühne, Selektoren, Regisseure bzw. Produzenten, SchauspielerInnen bzw. Programm oder hubs. Update: Inspiration, Akteur/actor )) und dem „Publikum“. Mit „Radar“ meine ich den kontinuierlichen Fluss von Informationen, die meine Quellen liefern und der mir ambient awareness liefert. Mit „Publikum“ ist der Kreis meiner Follower gemeint, an den meine eigenen Tweets gehen (und für die ich also Teil von deren Radar bin). Die Personenkreise meines Radars und meines Publikums können sich zu gewissem Grad überlappen, müssen es aber nicht; im Extremfall folgen mir völlig andere Menschen als denen ich folge. Dies erleichtert nicht nur die individuelle Informationsverarbeitung, denn meine Aufmerksamkeit mag begrenzt sein, während mir durchaus hunderte oder tausende Menschen folgen können. Aus Netzwerkt-Perspektive ist eine geringe Überlappung deswegen relevant, weil ich dann als Makler zwischen meinem Radar und meinem Publikum fungieren kann.
Prozessual sind meines Erachtens drei Stufen bzw. Selektionsentscheidungen voneinander zu trennen:
- Wem folge ich? Hier sind ganz unterschiedliche Kriterien denkbar, darunter z.B. persönliche Bekanntschaft oder Freundschaft, (gefühlte) Reziprozitätsnormen, Prominenz, Vertrauen in eine Informationsquelle, das strategische Zusammenstellen möglichst unterschiedlicher Quellen, …
- Was lese ich zu einem konkreten Zeitpunkt? Dies betrifft die jeweils situationsspezifische Abwägung, ob ich meinem „Radar“ Aufmerksamkeit widme. Für manche mag das routinisiert erfolgen, andere entscheiden dagegen ad hoc, ob sie sich einklinken. Sehr wahrscheinlich spielt auch die Größe des „Radars“ hierbei eine wichtige Rolle.
- Was sende ich bzw. was verbreite ich weiter? Dies betrifft grundsätzlich zunächst die Auswahl aus der Fülle möglicher Informationen (ob nun basierend auf anderen Quellen im Netz, dem eigenen Alltag oder momentanen Einfällen), die man twittern könnte. Aber auch beim Empfehlen, Weiterleiten oder Retweeten von Botschaften aus dem eigenen Radar legen Nutzer bestimmte Selektionskriterien an ((Siehe hierzu auch den Paper-Entwuf von boyd/Golder/Lotan 2010.)).
Die Selektionskriterien wären empirisch zu überprüfen (und variieren sicher in hohem Maße zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen). Noch nicht enthalten in dem Modell sind beispielsweise @-Replies, Listen oder auch der Umstand, dass man Tweets ja auch rezipieren kann ohne einer Person zu folgen. Da muss ich nochmal drüber nachdenken. Genauso wie ich überlegen muss, inwieweit sich das Modell auch auf andere persönliche Öffentlichkeiten jenseits von Twitter übertragen lässt, z.B. auf den Buschfunk der VZs oder den activity feed von Facebook. Vielleicht hat der eine oder die andere meiner geneigten Leserschaft ja Anmerkungen oder Ideen?
Die Zeit als Strukturierungsdimension ist eine gute Idee.
Mir fehlen hier die Schnittmengen zwischen beiden Gruppen (egal wie du sie nennst, ich würde aber in der selben Metaphernsprache bleiben), die dann (die Simulation von) Interaktion ermöglichen. Also:
„Producers“ -» („Clique“ «-» EGO) -» „Consumers“
Ganz quer dazu: @macava kam von meinen SchauspielerInnen zu actors – damit wären wir dann bei Latour.
Lieber Jan,
kurze Nachfrage: Welche Rolle spielt in Deinem Modell die Community, in der ich mich bewege? Oder ist sie in dem Sinne „nur“ Selektionskriterium?
Die Verbindung mit Facebook und anderen Social Networks erweitert aus meiner Sicht eindeutig die „Reichweite“ von Tweets, denn auch diejenigen, die nicht twittern, werden durch diese „Nachrichten“ erreicht. Der Austausch erfolgt damit nicht allein über die Twitter, sondern findet an vielen anderen Stellen statt. Folgen: unabschätzbar – viele neue Kommentarbaustellen auf jeden Fall.
Viele Grüße aus Augsburg,
Sandra
Mir geht’s ähnlich wie Till, mir fehlt auch die Schnittmenge: Follower sind nicht nur Publikum, sondern (zumindest ein Teil davon) wirkliche Dialogpartner (Till verwendet Interaktion). Evtl. relevant sind auch strukturierende Maßnahmen innerhalb meines Netzwerkes (v.a. durch Bildung von Gruppen oder Listen).
Noch ein Gedanke zum Radar (Begriff gefällt mir): Zwar steht vermutlich für die meisten User das Folgen anderer User im Vordergrund, ich finde aber auch das Verfolgen von Themen (z.B. per Hashtag) bedeutsam – ich denke da auch an die Anschlussfähigkeit Deiner Darstellung an mein Thema, die PR.
hm, ich hätte noch ein anderes problem mit dem begriff des „radars“ – soweit ich das erinnere, funktioniert ein radar vor allem durch das zurückwerfen eines zuvor ausgesendeten signals. genau das passiert in diesem fall ja nun nicht – es sei denn, man deklariert den beginn der „folgebeziehung“ durch den „nutzer“ als sendesignal. ist aber mE ein eher schiefes bild.
[oha – der entsprechende wikipedia-artikel ist recht umfangreich. vielleicht gibt es ja doch eine „radarsorte“. die zur twitter-kommunikation passt.]
allerdings denke ich auch, dass die kommunikationsbeziehungen (und die daraus resultierenden) öffentlichkeitsstrukturen noch komplexer sind – bei ersten „fingerübungen“ zur einschätzung der „twitteröffentlichkeiten“ sind wir bisher nur zu der einschätzung gelangt, dass die übliche stufeneinteilung nach habermas (encounter-discourse-mass media) nun endgültig überworfen ist. denn je nach struktur, nutzung und reichweite ist die realisierung aller drei stufen denkbar.
(vgl. dazu auch die BA-thesis von @malte_politicus via http://webevangelisten.de/wissenschaftliche-arbeiten/).
Hm, in der PR sprechen wir statt von Radar von Umweltbeobachtung, was uns stärker in die Systemtheorie führte….
@all: super, danke für das hilfreiche feedback! ich weiß nicht, ob ich die nächsten Tage zu einer antwort komme, aber ich melde mich.. :-)
Nichts gegen das Modell, ich finde die Einzelüberlegungen durchaus schlüssig, aber ist es nicht eher ein Modell für jede Art von Wahrnehmung und Kommunikation und etwas arg unspezifisch?
Gibt es nicht immer eine Auswahl an Wahrnehmung – also eine Art „Radar“, welches die gleichen Kriterien erfüllen kann, wie die von Dir genannten (z.B. persönliche Bekanntschaft oder Freundschaft, (gefühlte) Reziprozitätsnormen, Prominenz, Vertrauen in eine Informationsquelle, das strategische Zusammenstellen möglichst unterschiedlicher Quellen, …), ist nicht immer die Frage, Was lese ich und Was verbreite ich weiter? Also für mich klingt das eher wie klassische Kommunikation und noch ohne viel Web 2.0
Schönen Gruß
Michael
Ich vermisse wie Thomas auch die Rolle der Hashtags – und möchte dabei auch auf die Suche verweisen, die sich ja auch so einstellen lässt, dass man automatisch informiert wird, wenn etwas in der Suche auftaucht. Ganz wichtig scheinen mir auch die neuen Listen sein. HIer kann ich Leute eintragen, denen ich nicht followe – d.h. ich kann sogar die Auswahl meiner Follower nun ganz neu zusammenstellen – auf bestimmte Kriterien (habe schon so ein Tag wie „Main“ gesehen) reduzieren – und dafür zahlreiche Themen-/Nähe-Kanäle einrichten.
Gute Idee das ganze mal zu systematisieren.
Schließe mich Thomas und Christiane an. Hashtags sind wichtig. Durch sie wird nicht nach Personen, sondern stärker nach Themen selektiert.
Den Zeitfaktor zu berücksichtigen finde ich auch sehr gut. Kommen Tools wie Feeds oder Listenabonnements per Mail ins Spiel kann der Faktor Zeit auch beeinflusst werden.
Das Twitter Modell ohne Tools bietet aber sicherlich einen guten Ausgangspunkt für weitere Überlegungen.