Die letzte (Vortrags-)Reise dieses Jahr führt mich nach Passau, zur interdisziplinären Tagung „Privatheit“, die der Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkt Privatheit (IFSP) der dortigen Universität organisiert. Das Programm verspricht eine ganze Reihe von interessanten Beiträgen und Perspektiven; mein eigener Vortrag am Samstag vormittag wird sich mit den Grenzverschiebungen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit auseinandersetzen, die sich im Social Web beobachten lassen. Ich werde darin – ausgehend von meinem Konzept der „persönlichen Öffentlichkeit“ – auch einige weitere Gedanken zur Diskussion stellen, die ich gemeinsam mit Kollegen vom Bredow-Institut sowie mit Monika Taddicken und Leonard Reinecke für einen Forschungsantrag ((Der Antrag reagierte auf eine Ausschreibung der LfM zum Thema „Privatsphärevorstellungen bei den ‚digital natives'“; leider haben wir den Zuschlag nicht bekommen, aber das „Gewinnerteam“ um Michael Schenk, Gabi Reinmann und Alexander Rossnagel verspricht ja auch sehr interessante Ergebnisse.)) entwickelt habe. Zur Abwechslung will ich mal wieder etwas ausführlicher hier im Blog darauf eingehen, anstatt nur die Präsentation selbst einzubinden.
Zur Erinnerung: „Persönliche Öffentlichkeiten“ sind dadurch gekennzeichnet, dass Menschen Informationen von persönlicher Relevanz mit einem (vergleichsweise kleinen) Publikum teilen, das aus sozialen Kontakten besteht (also nicht das disperse „Massenpublikum“ ist); zumeist befinden sich die Nutzer dann im Modus der „Konversation“ (statt des „Publizierens“). Prototypisch lassen sich persönliche Öffentlichkeiten auf Netzwerkplattformen wie Facebook beobachten, aber sie können z.B. auch auf Blogs oder Twitter auftreten. Um diese Entwicklung in Hinblick auf ihre Konsequenzen für Privatsphäre und Datenschutz „greifbar“ zu machen, ist m.E. das Konzept der „informationellen Selbstbestimmung“ sehr hilfreich, das im Social Web eine dreifache Bedeutung besitzt:
Informationelle Selbstbestimmung ist erstens ein normatives Konzept, an dem sich das Handeln unterschiedlicher Akteure orientieren soll und muss. Als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung muss das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch im Social Web gewährleistet sein. Es umfasst die Selbstbestimmung bzw. Kontrolle einer Person (1) über die von ihr selbst mitgeteilten Daten, (2) über die sie betreffenden Daten, die andere Nutzer preisgeben sowie (3) über die Daten, die Betreiber etc. sammeln. Weitergehende und spezifischere datenschutzrechtliche Bestimmungen und Regelungen einerseits, insbesondere aber auch geteilte (wenngleich ungeschriebene) soziale Normen und Konventionen andererseits rahmen das Handeln zusätzlich, weil sie ausdrücken, was (sub-)kulturell als „gewünschtes“ oder „akzeptables“ Verhalten erwartet wird.
Zweitens ist informationelle Selbstbestimmung eine Praxis, die in konkreten Situationen ausgeübt wird: Nutzer betreiben informationelle Selbstbestimmung (und zwar mehr oder weniger kompetent, reflektiert, evtl. auch scheiternd), wenn sie sich in den vernetzten persönlichen Öffentlichkeiten des Social Web bewegen. Erst dieser Blick auf die ausgeübte Praxis ermöglicht es, datenschutzrelevante Handlungsweisen jenseits (und unter Umständen auch in Widerspruch oder Abweichung von) rechtlich-sozialen Normen zu erfassen. Die Frage, was eine Person wem gegenüber in welcher Kommunikationssituation offenbart, welche Absichten und Ziele damit verbunden werden und welche Vorstellungen von Privatsphäre oder personenbezogenen Daten das Handeln jeweils anleiten, ist somit nur durch empirische Nutzungsforschung zu beantworten.
Drittens ist informationelle Selbstbestimmung schließlich auch eine Kompetenz, also etwas, das man können muss bzw. sollte. Das eigenständige Wahrnehmen eines „Rechts auf Privatheit” setzt bestimmte Wissensformen (z. B. über die mittel- und langfristigen Konsequenzen des eigenen informationsbezogenen Handelns) und Fertigkeiten (z. B. im Umgang mit technischen Optionen) voraus. Erst dadurch wird ein Nutzer zum Beispiel in die Lage versetzt, im Sinne einer „informierten Einwilligung” (unter Kenntnis von Umfang und Zweck) einer Verarbeitung der eigenen Daten zuzustimmen oder diese abzulehnen. Zudem berührt diese Vorstellung von informationeller Selbstbestimmung als Kompetenz auch die „informationelle Autonomie“ (Rainer Kuhlen), die eine Person in die Lage versetzt, eine freie Wahl von Quellen und Kommunikationsräumen vorzunehmen, um die eigenen Handlungsziele zu erreichen.
Um diesen zentralen Gedanken noch einmal besonders zu betonen: Informationelle Selbstbestimmung im Social Web reicht über rein datenschutzrechtliche Aspekte des Handelns hinaus. Sie umfasst letztlich alle Fähigkeiten, Nutzungspraktiken und sozialen Rahmenbedingungen, die im Zuge der onlinebasierten Kommunikation relevant sind. Dies lässt sich beispielhaft an einem der wesentlichen „Angelpunkte“ für die Grenzziehung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit im Social Web illustrieren: Die Unterschiede zwischen insgesamt vier Varianten eines „Publikums“ ((An dieser Stelle knüpfen wir an die Überlegungen von Marwick/boyd über die „imagined audiences“ bei Twitter an, erweitern sie aber noch etwas.)), die im Kontext von persönlichen Öffentlichkeiten relevant werden.
- Das intendierte Publikum ist derjenige Personenkreis, der dem Nutzer im Sinne eines „vorgestellten Empfängerkreises” seiner Kommunikation im Allgemeinen vorschwebt und Themenwahl und -präsentation anleitet: Die eigenen Freunde und Bekannten in einem persönlichen Blog, die Kollegen und beruflichen Kontakte auf der Netzwerkplattform XING etc.
- Das adressierte Publikum ist derjenige Personenkreis, der in einer konkreten Situation tatsächlich erreicht werden soll; dieses kann z. B. durch eine spezifische Ansprache in einem einzelnen Blogeintrag oder auch das gezielte Einschränken oder Erweitern von technischen Sichtbarkeitsoptionen für ein spezifisches Foto auf einer Plattform gesteuert werden.
- Das empirische Publikum ist derjenige Personenkreis, der tatsächlich von bestimmten Äußerungen oder Informationen Kenntnis nimmt; es kann sich vom intendierten wie vom adressierten Publikum unterscheiden, z. B. weil die eigenen Freunde das persönliche Weblog nur sporadisch lesen oder ein Foto an bislang unbekannte Personen weitergeleitet wird.
- Das potentielle Publikum ist schließlich derjenige Personenkreis, der prinzipiell technisch erreichbar wäre bzw. von den hinterlassenen Informationen Kenntnis erhalten könnte. Dies schließt in der Regel auch die Plattformbetreiber o.ä. mit ein, ist ansonsten aber vor allem an die jeweiligen technischen Bedingungen (z. B. in Hinblick auf die Persistenz oder Durchsuchbarkeit von Informationen) gekoppelt, die Bestandteil der Architektur eines Kommunikationsraums sind.
Probleme bzw. Konflikte der informationellen Selbstbestimmung können vor allem dann entstehen, wenn – durch welche Gründe auch immer (Unkenntnis, intransparente Software, etc.) – das intendierte und/oder adressierte Publikum nicht mit dem empirischen und/oder potentiellen Publikum übereinstimmt, also die eigene Selbstoffenbarung aus dem vom Nutzer beabsichtigen Kontext gelöst und in einen anderen Kontext gestellt wird. Dies geschieht beispielsweise in dem gerne herangezogenen Szenario, dass ein Personalchef die studiVZ-Profile von Bewerbern durchstöbert und somit Einblick in Selbstdarstellungen gewinnt, die nicht an ihn adressiert waren. Aber auch wenn die „known but inappropriate others“ (Sonia Livingstone), also z.B. Eltern, Lehrer oder ehemalige Partner Einblick in persönliche Informationen erhalten, kann es zu Konflikten kommen.
Gerade das Wissen um die Größe und Zusammensetzung des potentiellen Publikums ist somit ein entscheidender Faktor, um informationelle Selbstbestimmung tatsächlich auszuüben. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, mögliche zukünftige Erweiterungen des Publikums – z.B. durch veränderte Geschäftsmodelle der Plattformbetreiber – mit in Betracht zu ziehen. In dieser Hinsicht sind m.E. die technischen Rahmenbedingungen einzelner Plattformen oder auch der vernetzten Öffentlichkeiten im Allgemeinen noch nicht transparent genug.
Hi Jan,
danke für diese Hinweise. Möglicherweise sollten die Plattformen daran arbeiten, ihren Nutzern ein Gefühl dafür zu vermitteln, welche Reichweite bestimmte Informationen haben (über Grafiken usw.). Um das zu bewerkstelligen müsste man den Betreibern aber vor Augen führen, was ihnen ein solcher Mehraufwand bringen würde (z.B. gesteigertes Vertrauen in eine Anwendung). Daran könnte man auch mal arbeiten, eine Art Impulspapier für Social Web-Anbieter.
LG Nele Heise
Hallo Jan,
keine Ahnung, ob ich intendiert war, adressiert aber bestimmt. Wie dem auch sei, ich bin jetzt auf jeden Fall empirisch da gewesen und habe mein Potential wahrgenommen, diese persönlichen Äußerungen von dir zu lesen.
Du schreibst: „Gerade das Wissen um die Größe und Zusammensetzung des potentiellen Publikums ist somit ein entscheidender Faktor, um informationelle Selbstbestimmung tatsächlich auszuüben. “
Hmm, bedeutet also, ich kann mir in Zukunft von jedem Menschen im Café den Ausweis zeigen lassen, weil jeder mich potentiell beobachten kann und deswegen meine informationelle Selbstbestimmung bedroht?
Wenn wir aber akzeptieren oder gar wünschen, dass es auch im Digitalen einen gesellschaftlichen, öffentlichen Raum gibt (auch Teile eine facebook-Profils könnten dies sein), in dem wir keine letztliche Kontrolle über die sagenumwobene „informationelle Selbstbestimmung“ haben;
Wenn wir also wünschen, das der Einzelne im Digitalen auch als öffentlicher Bürger agieren kann und somit die Asymmetrie der gegenseitigen Informationshoheit akzeptieren muss;
welche infrastrukturellen Massnahmen braucht das Web dann, um diesen Raum des Risikos und des Vertrauen zu schaffen?
Oder ist dies gar einfach alles eine Illusion, und man muss es halt aushalten, wenn man sich als Mensch unter Menschen begibt, dass nicht alle einen so sehen wollen, wie man das gerne hätte?
Kurzgefragt also: Sind Soziale Netzwerke eher verwobene Wohnzimmer oder sind sie ein neuartiger öffentlicher Raum?
PS: Wünsche eine schöne erholsame Urlaubszeit.
Hi Jan,
gibt es diese Gedanken schon in einer publizierten Form? Könnte das momentan echt sehr gut gebrauchen.
Grüße, Nele
Nele, Du meinst noch publizierter als hier im Blog? ;-)
Es wird eine Publikation zu der Passauer Tagung geben, für die die Beiträge aber erst Ende März vorliegen müssen; ich habe keine Ahnung, wie der Sammelband dann heißen wird und wie mein Beitrag zu zitieren wäre.
Zitier doch entweder den Blogeintrag hier (siehe auch die „view academic citations“ oben) als
Schmidt, Jan (2010): Informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre. In: Schmidt mit Dete [Weblog], 19. November 2010. Online-Publikation: http://www.schmidtmitdete.de/archives/728. Abrufdatum: 13. January 2011
oder alternativ den Vortrag.
Alles klar – danke :-)