„Gefordert, gefördert, gefährdet“ – Computerspielprojekt abgeschlossen

Heute (am 16.2.) werden im Rahmen der Fachtagung „Computerspiele zwischen Spaß, Pädagogik und Exzess“ Ergebnisse eines Projekts vorgestellt, das mich von Mitte 2009 bis Ende 2010 insgesamt 15 Monate beschäftigt hat: Unter dem etwas sperrigen Arbeitstitel „Kompetenzerwerb, exzessive Nutzung und Abhängigkeitsverhalten bei Computerspielen“  habe ich mit Kolleg/innen vom Hans-Bredow-Institut sowie Jürgen Fritz und Tanja Witting von der FH Köln im Auftrag der LfM in Nordrhein-Westfalen die Nutzung und Auswirkungen von digitalen Spielen untersucht.

Die doppelte Perspektive – Kompetenzerwerb als positiv konnotierte Folge des Computerspielens, Computerspielabhängigkeit hingegen als gesellschaftliches Problem – und die für sich genommen schon umfangreichen Fragen haben recht hohe Ansprüche an das Forschungsdesign gestellt; wir haben letztlich sieben umfangreiche Spielanalysen, etwa vierzig ausführliche Interviews mit Computerspielern, fünf Interviews mit Experten aus Beratungseinrichtungen und eine repräsentative Befragung von Computerspielern (n=600) in Deutschland durchgeführt.

Die Ergebnisse des Projekts sind in verschiedener Form und Ausführlichkeit – und mit einem etwas knackigeren Titel („Kompetenzen und exzessive Nutzung bei Computerspielern: Gefordert, gefördert, gefährdet?“) – zusammengefasst. Eine sehr knappe „executive summary“ (s.u.) und eine etwas ausführlichere Zusammenfassung können dem eiligen Leser helfen. Die ausführlichen Befunde sind in drei Bänden der LfM-Schriftenreihe publiziert:

Die vollständigen Ergebnisse des Projekts sind publiziert in:

  • Fritz, J.; Lampert, C.; Schmidt, J.; Witting, T. (2011) (Hrsg.): Kompetenzen und exzessive Nutzung bei Computerspielern: Gefordert, gefördert, gefährdet. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien NRW (LfM), Band 66. Berlin.
    (Kapitel des Bandes: Einleitung; Theoretische und Methodische Grundlagen; Die Computerspieler in Deutschland; Wie Spieler spielen; Kompetenzförderung in und durch Computerspiele(n); Computerpiele(n) als zeitliches Phänomen; Problematische Nutzung und Abhängigkeit von Computerspielen; Medienpädagogische Konsequenzen und Handlungsbedarfe; Zusammenfassung und Fazit)
  • Fritz, J. (2011): Wie Computerspieler in Spiel kommen. Theorien und Modelle zur Nutzung und Wirkung virtueller Spielwelten. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien NRW (LfM), Band 67. Berlin.
    (Eine Zusammenfassung der theoretischen Konzepte, die Jürgen Fritz im Laufe seiner langjährigen Forschung zu Computerspielen entwickelt hat.)
  • Fritz, J.; Rohde, W. (2011): Mit Computerspielern ins Spiel kommen. Dokumentation von Fallanalysen. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien NRW (LfM), Band 68. Berlin.
    (Die Dokumentation von fallanalytischen Spielerportraits, die auf der Grundlage der ausführlichen Interviews erstellt wurden.)

Zudem gibt es einen Anhangband mit weiteren Informationen und der Tabellendokumentation der Repräsentativbefragung, der online verfügbar ist. Eher an Eltern richten sich Antworten auf einige häufig gestellte Fragen finden sich hier.

Dieser Beitrag ist vorab verfasst; ich werde nach der Veranstaltung einige weitere Informationen ergänzen.

[Update] Eine Auswahl an Reaktionen

Siehe auch diesen Eintrag für eine kurze Einordnung der Berichterstattung zur Studie.

Kurzzusammenfassung

Mit den Themen Kompetenz und exzessive Nutzung nimmt die Studie zwei zentrale Themenfelder in den Blick, die auf den ersten Blick konträr, wenn nicht unvereinbar scheinen. Zum einen untersucht sie, was Computerspiele fordern und fördern, zum anderen geht sie der Frage nach, ob von Computerspielen eine Gefährdung im Sinne eines (zeitlichen) Kontrollverlustes ausgeht. Die Studie basiert auf einem Mehrmethodenansatz und berücksichtigt sowohl die Angebots- als auch die Nutzerseite. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse hervorheben:

  • Den Ergebnissen der Repräsentativbefragung zufolge spielen die deutschen Computerspieler (ab 14 Jahren) im Durchschnitt etwa 6,25 Stunden pro Woche. 17 Prozent von ihnen lassen sich als „extensive Spieler“ bezeichnen, die im Durchschnitt mehr als 90 Minuten pro Tag mit Computerspielen verbringen. Unter ihnen sind Männer sowie Jugendliche und junge Erwachsene (14 bis 29 Jahre) überproportional vertreten.
  • Unter Zuhilfenahme der KFN-CSAS-II-Skala ermittelte die Studie, dass 98,6 Prozent der Computerspieler ein unauffälliges Spielverhalten zeigen, 0,9 Prozent über dem Schwellenwert für „gefährdet“ und 0,5 Prozent über dem für „abhängig“ liegen. Dabei handelt es sich jedoch um keine Diagnose von „Computerspielabhängigkeit“ im Sinne eines klinischen Störungsbildes.
  • Bindungsfaktoren, die eine intensive Auseinandersetzung mit Computerspielen begünstigen, finden sich in ganz unterschiedlichen Genres. Gerade im Bereich des onlinebasierten Spielens – insbesondere bei den „Massively Multiplayer Online Games“ (MMOs) und auch die „Social Games“ (wie z.B. Farmville) – ist eine Konvergenz von Spielmechanismen, Belohnungsstrukturen und sozialen Funktionen zu beobachten, die entsprechende Spiele attraktiv und motivierend machen.
  • Problematische Computerspielnutzung wird nicht durch ein konkretes Spiel bzw. Spielgenre verursacht. In denjenigen Fällen, in denen es zu einer zeitlich exzessiven Computerspielnutzung mit problematischen Auswirkungen auf andere Lebensbereiche kommt, wirken vielmehr Merkmale von Spieler, Spiel und Spielkontext zusammen. So kann es beispielsweise in biographischen Übergangsphasen, in denen wenig äußere Zeitstrukturen vorgegeben sind, zu intensivem Spielen kommen.
  • Computerspiele sind für viele Personen in einen sozialen Rahmen eingebettet, weil sie mit oder gegen andere gespielt werden. Das geteilte Unterhaltungserleben, das gemeinsame zielorientierte Handeln und auch die Möglichkeiten zur Kommunikation über das Spiel hinaus machen den Reiz vieler digitaler Spiele aus. Erfahrungen aus der Beratungspraxis zeigen, dass diese hochgradige soziale Orientierung insbesondere dann problematisch werden kann, wenn dadurch realweltliche Misserfolge kompensiert werden.
  • Selbstbestimmte Computerspielnutzung erfordert eigene Kompetenzen, insbesondere die Fähigkeit zur Selbstregulierung, um die den Computerspielen innewohnenden Zeitrhythmen mit Anforderungen aus anderen Bereichen des eigenen Lebens abgleichen zu können.
  • Computerspieler selbst rahmen digitale Spiele nur sehr selten als „Lernraum“ und vermuten, dass erworbene Kompetenzen innerhalb der digitalen Spiele verbleiben, es also allenfalls zu intramondialem Transfer, d.h. zu einer Übertragung der im Spiel erworbenen Kompetenzen auf andere, strukturell ähnliche Spiele kommt.
  • Medienpädagogisches Ziel muss sein, Computerspieler zu einem selbstbestimmten Umgang mit digitalen Spielen zu befähigen. Daher werden zum einen Anbieter aufgefordert, die Bindungsfaktoren der Spiele transparenter zu machen. Zum anderen sollte das Angebot für Eltern erweitert werden, das sie in die Lage versetzt, die Computerspielnutzung ihrer Kinder besser einschätzen und begleiten zu können. Bereits bestehende Angebote zur Förderung von Medienkompetenz im Umgang mit Computerspielen sollten ausgebaut bzw. finanziell verstetigt und vernetzt werden.

5 Kommentare


  1. Den Verfassern dieser haarsträubend verharmlosenden „Studie“ (sponsored by Electronic Arts!) empfehle ich einen Besuch der Spielesuchtambulanz der Uniklinik Mainz und Gespräche mit Eltern und Lehrern betroffener Jugendlicher.

    Einfach verantwortungslos!
    Karl

  2. Hallo Herr Bühler, haben Sie die Studie gelesen?

    Erstens: Die Studie ist nicht von Electronic Arts gesponsored, ich habe keine Ahnung, wie sie zu dieser Behauptung kommen.

    Zweitens hätten Sie eigentlich feststellen müssen, dass wir das Problem „Computerspielabhängigkeit“ keineswegs verharmlosen.
    Im Gegenteil, wir tragen durch die Studie dazu bei, dass diejenigen Fälle, in denen exzessives Spielen zu gravierenden Problemen im sozialen Umfeld führen, auch als Problemfälle anerkannt werden. Aber das kann nicht heißen, jede Form des ausgedehnten Spielens und jeden Konflikt, der sich in Familien rund um Computerspiele entzündet, gleich als „Computerspielsucht“ zu bezeichnen, denn damit wird man keiner Seite gerecht.


  3. Eine interessante Zusammenfassung. Ich bin gespannt, wie in der Zukunft speziell mit dem Problem der Abhängigkeit von MMOs umgegangen wird. Hier scheint eine höhere Altersfreigabe sinnvoll.

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