Ende Juli wurde ich über das Netzwerk Medienethik auf ein medienethisches Impulspapier „Virtualität und Inszenierung“ hingewiesen, das die publizistische Kommission der Deutschen Bischofskonferenz erstellt hat. Ich konnte damals nur kurz einen Blick hineinwerfen; einige Wochen später erhielt ich dann die Bitte, für das Journal „Communicatio Socialis“ eine Stellungnahme zum Impulspapier zu verfassen. Sie ist nun zusammen mit einer Reihe von weiteren Einschätzungen in Ausgabe 4/2011 der Zeitschrift veröffentlicht worden.
Schmidt, Jan-Hinrik (2011): Informationelle Selbstbestimmung in der Praxis. Kommunikationssoziologische Perspektive. In: Communicatio Socialis, Jg. 44, Nr. 4, S. 417-421.
Mit freundlicher Zustimmung der Redaktion kann ich den Text vorab bereits hier im Blog einstellen; der Blick in das Heft lohnt sich aber definitiv, weil die anderen Stellungnahmen (u.a. von Andreas Hepp, Ingrid Paus-Hasebrink, Michael Jäckel und Peter Schaar) alle sehr instruktiv und weiterführend sind.
Meine Stellungnahme zum medienethischen Impulspapier besteht aus zwei Teilen, nämlich (1) einer kritischen Würdigung sowie (2) einigen Gedanken, die die Anliegen des Textes weiterführen und erweitern sollen. Dem Verständnis mag die Information dienen, dass ich mich aus einer kommunikationssoziologischen Perspektive mit Entwicklungen der internetbasierten Kommunikation befasse, die sich unter den Oberbegriff des „neuen Strukturwandels von Öffentlichkeit“ zusammenfassen lassen.
Kritische Würdigung
In gewisser Weise stellt die publizistische Kommission der Deutschen Bischofskonferenz mit der Bezeichnung „Impulspapier“ das eigene Licht unter den Scheffel. Der Text leistet deutlich mehr als „nur“ Impulse zu setzen, denn er nimmt in vorbildlicher Weise eine knappe, nichtsdestotrotz aber fundierte und von klaren Anliegen geleitete Analyse der gegenwärtigen Medienentwicklung vor. Die Leitbegriffe „Virtualität“ und „Inszenierung“ bringen zentrale Entwicklungen auf den Punkt, die sich nicht nur in digitalen Medien zeigen, dort aber besonders prägnant auftreten. Zugleich demonstriert der Text, dass die Kategorie „Authentizität“ geeignet ist, diese Entwicklung analytisch differenziert zu erfassen und ethische Probleme herauszuarbeiten. Dies ist auch deswegen erfreulich, weil Authentizität ein zentrales Motiv der Nutzungspraktiken im Internet ist, das zum Beispiel die Selbstpräsentation auf Netzwerkplattformen anleitet, aber auch die Erwartungen an das Auftreten von Politiker, Unternehmen oder Organisationen in den sozialen Medien prägt. Somit ist das Impulspapier anschlußfähig an die Alltagserfahrungen der Nutzer.
Die abgeleiteten „ethischen Bewährungsfelder“ sind hochgradig relevant. Kommunikative Gewalt ist ein zentrales Thema der Medienwirkungsforschung und der öffentlichen Debatte, wobei zu der Sorge um problematische Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Film, Fernsehen oder Computerspiel in jüngerer Zeit auch die Sorge um kommunikative Gewalt in alltäglichen Interaktionen (Stichwort: Mobbing bzw. Bullying) tritt. Hier sei darauf hingewiesen, dass es sich nicht notwendigerweise nur um ein Problem der medial vermittelten Kommunikation handelt. Vielmehr ist auch Cybermobbing zunächst einmal vor allem Mobbing, also eine a-soziale Form der Interaktion zwischen Menschen, die sich auf ganz unterschiedlichen Kanälen äußern kann.
Auch das zweite Thema, Datenschutz, ist in der alltäglichen Nutzungspraxis wie in der gesellschaftlich-politischen Debatte ständig präsent. Dies hängt wiederum zu einem großen Teil mit der Popularität von Netzwerkplattformen wie Facebook oder StudiVZ zusammen, die im Impulspapier als drittes Bewährungsfeld diskutiert werden. Dies ist sinnvoll, weil sie prototypisch für die identifizierten Entwicklungen stehen:
- für den Wandel von Selbstdarstellung und Inszenierung mit Authentizität als einer leitenden Erwartung;
- für die Erweiterung gesellschaftlicher Öffentlichkeiten, in denen das Filtern mit Hilfe von explizit gemachten sozialen Beziehungen an die Seite des professionell-journalistischen Auswählens, Aufbereitens und Verbreitens tritt;
- schließlich auch für die Erweiterung der Kanäle für Konversation und Interaktion, ob im privat-persönlichen, beruflichen oder (zivil-)gesellschaftlichen Bereich.
Bei all diesen Analysen begeht das Impulspapier nicht den Fehler, die populäre Gegenüberstellung von „digital natives“ und „digital immigrants“ zu reproduzieren. So hilfreich diese sein mag, um einzelne Entwicklungen auf den Punkt zu bringen, so problematisch ist sie doch. Denn der Blick auf Jugendliche und junge Erwachsene, die scheinbar so selbstverständlich mit digitalen Medien umgehen, ist oft exotisierend und mischt ein Drittel Bewunderung mit einem Drittel Unverständnis und einem weiteren Drittel Sorge. Die „Digital Natives“ sind dann tatsächlich die Anderen und Fremden, die Eingeborenen einer unbekannten Welt, in die die Erwachsenen nur als Touristen oder Einwanderer Zutritt haben.
Doch dies birgt die doppelte Gefahr, dass junge Menschen entweder alleine gelassen werden – „Was sollen wir Alten denen denn noch beibringen können?“ – oder aber mit Regeln und Erwartungen konfrontiert werden, die aus einer anderen Medienwelt stammen und nicht mehr passend sind. Der Weg des Impulspapiers erscheint hier deutlich konstruktiver und zukunftsgerichteter: Zum einen würdigt es den Stellenwert der digitalen Medien für die Bewältigung alltäglicher Aufgaben in einer Gesellschaft, die von Informationsfülle und Prinzipien der vernetzten Individualität gekennzeichnet ist. Zum anderen sucht es aber auch nach Fertigkeiten und Vermittlungsformen, die alle Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, selbstbestimmt, kenntnisreich und verantwortungsvoll an diesen Medien teilhaben zu können.
Weiterführende Gedanken
Aus der gelungenen Analyse gegenwärtiger Medienentwicklungen leitet das Papier eine Reihe von Forderungen bzw. Handlungsempfehlungen ab. Man könnte diese sicherlich um zusätzliche Bewährungsfelder erweitern und entsprechende ethische Forderungen und Kompetenzen skizzieren – Felder wie das Urheberrecht oder Formen der Arbeit und des Wirtschaftens in der Wissensgesellschaft fallen hier unmittelbar ins Auge. Meine Bemerkungen drehen sich stattdessen aber um zwei Aspekte, die aus meiner Sicht hochgradig anschlußfähig sind und geeignet scheinen, die Stoßrichtung des Textes weiter zu führen.
Dies betrifft erstens einen Begriff, der interessanterweise im Impulspapier an keiner Stelle explizit auftaucht: „Informationelle Selbstbestimmung“. Er ist im Zusammenhang der Volkszählungsdebatte der 1980er Jahre entstanden und hat, ausgehend vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1983, maßgeblich die Vorstellung (und rechtliche Gestaltung) von Datenschutz in Deutschland beeinflusst. Im Kern besagt er, dass jeder Mensch die Kontrolle darüber haben sollte, welche personenbezogenen Daten über ihn von wem für welche Zwecke gespeichert und verwendet werden. Und auch wenn er unter anderen medialen und gesellschaftlichen Bedingungen geprägt wurde, halte ich ihn doch für sehr gut geeignet, die Art und Weise anzuleiten, wie wir in digitalen Medienumgebungen agieren.
Zum ersten besitzt er eine normative Komponente, die sich nicht in rechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen erschöpft, sondern auch den alltäglichen Umgang miteinander betrifft. Menschen erwarten, dass sie selbst bestimmen können, was sie wem offenbaren und wer Informationen über sie sammelt und weiter verbreitet, selbst wenn sie es nicht direkt mit einer datenverarbeitenden Stelle zu tun haben, sondern mit ihren Partnern, Bekannten, Nachbarn, Fremden im Zugabteil, o.ä.
Zum zweiten lässt sich der Begriff als ausgeübte Praxis deuten und damit der empirischen Analyse zugänglich machen: Wir können beobachten und vergleichen, wie Menschen informationelle Selbstbestimmung im Internet oder anderswo ausüben; wie souverän oder scheiternd, wie differenziert oder pauschal, wie offen oder restriktiv sie personenbezogene Informationen mit anderen teilen. Wir können auch überprüfen, inwieweit Merkmale des Kontexts diese Praxis beeinflussen, also inwiefern zum Beispiel die Vorstellung vom Publikum auf einer Internetplattform oder auch die technischen Voreinstellungen und Optionen der Software die informationelle Selbstbestimmung erleichtern oder erschweren.
Zum dritten schließlich bezeichnet der Begriff eine Kompetenz: Informationelle Selbstbestimmung ist etwas, was man unter gegenwärtigen Medienbedingungen können muss und können sollte. Das Impulspapier schneidet in Abschnitt VI.B.2 einige Facetten dieser Kompetenz an, doch eine weitergehende Differenzierung und Entwicklung von informationeller Selbstbestimmung als notwendige Kompetenz unserer Zeit steht noch aus.
Der zweite weiterführende Aspekt berührt das im Impulspapier entwickelte Verständnis von „Teilhabe“ bzw. „Partizipation“. Medien sind hierbei Werkzeuge, mit denen gesellschaftliche Teilhabe verwirklicht oder verbessert werden kann, weil sie als Kommunikationsmittel, als Schnittstellen und als Ausdrucksphänomene fungieren (siehe Kapitel V.C). Ich möchte eine weitere Facette von Teilhabe ergänzen: In dem Maße, in dem wesentliche Teile unseres sozialen Lebens und gesellschaftlicher Öffentlichkeit mit Hilfe von digitalen Technologien ermöglicht bzw. unterstützt werden, wird auch die Teilhabe an der Gestaltung dieser Technologien selbst eine wesentliche demokratische Aufgabe.
Dies betrifft auch, aber nicht nur die bereits angesprochene informationelle Selbstbestimmung – die softwareseitig vorgegebenen Optionen und Voreinstellungen von Plattformen wie Facebook, YouTube oder Twitter haben einen wesentlichen Einfluss auf die Zugänglichkeit und Verbreitung von Informationen. Aber auch gesellschaftliche Öffentlichkeit ist in wachsendem Maße von den Filter- und Sortierleistungen der Algorithmen geprägt, die nicht transparent sind. Im Bereich der mobilen Medien etabliert sich derzeit ein Modell, das anders als das Internet auf vergleichsweise geschlossenen Systemen beruht: Software bzw. „Apps“ auf Smartphones und Tablet-PCs sind nicht frei installierbar, sondern müssen über zentralisierte Marktplätze („App Store“, „Android Marketplace“ o.ä.) bezogen werden, deren Betreiber eine machtvolle, weil kontrollierende Rolle einnehmen. All diese Entwicklungen sind wiederum durch den Umstand gekennzeichnet, dass wir in aller Regel als „Kunde“ (und nicht als „Bürger“) an ihnen teilhaben: Wer sich für einen Dienst registriert, geht einen Vertrag mit den Betreibern ein und muss Allgemeine Geschäftsbedingungen akzeptieren, die kaum jemand liest, weil sie auch kaum jemand verstehen kann.
In all diesen Bereichen sind die Mitspracherechte der Nutzer nur gering ausgeprägt, wenn sie denn überhaupt existieren. Selbst die wesentliche Einflussmöglichkeit, die Konsumenten bzw. Kunden in der Regel bleibt, nämlich der Verzicht auf Konsum bzw. Nutzung der Dienste eines Anbieters, wird durch Monopolisierungstendenzen und Netzwerkeffekte vielfach erschwert: Facebook nicht zu nutzen kommt in bestimmten Altersgruppen der sozialen Isolation gleich, und die Plattform zugunsten einer Alternative zu verlassen, ist gleichbedeutend mit einem Verlust der dort eingestellten und gepflegten Informationen, weil diese nicht exportiert und an anderer Stelle eingepflegt werden können.
Zentrale Weichenstellungen für die Entwicklung der Mediengesellschaft werden derzeit in Feldern getroffen, wo Regulierung durch Recht und durch marktliche Verträge auf die starke Prägekraft von Software-Code trifft. Die vierte Säule der Rahmung menschlichen Handelns in digitalen Medien, die Regulierung durch Normen und ethische Prinzipien, droht demgegenüber gelegentlich etwas in den Hintergrund zu geraten. Das Impulspapier entwirft und begründet ethische Prinzipien, die uns bei der demokratischen Gestaltung der medialen Kommunikationsräume anleiten können – es kommt jetzt darauf an, die Prinzipien einzubringen und sich an dieser Gestaltung zu beteiligen.